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Vorwurfkultur



Normalerweise beginnt ein neues Jahr mit Vorsätzen. Darauf pfeifen wir vorsätzlich und kümmern uns um Vorwürfe, die in diesem Land eine besonders intensive Kultivierung erfahren. Sehr oft absolut zu Recht. Viele Leute haben sich ganz fürchterlich über Thomas Bernhard aufgeregt, ihm vorgeworfen, vollkommen falsche Vorwürfe zu machen. Also waren seine Vorwürfe offenbar berechtigt. Was ich übrigens auch denke, hiermit mache ich gleich selbst einen Vorwurf an die Autoren einer Radiosendung, in der kürzlich über Thomas Bernhard gesprochen wurde. Einer der Teilnehmer (im Radio, kein Anrufer) hat die vollkommen entbehrliche Frage in den Raum gestellt, ob denn nicht Bernhard lediglich ein und das selbe Buch immer und immer wieder geschrieben hat. Der Vorwurf an den Sender lautet: Bitte laden sie doch Leute zu Literatursendungen ein, die das Werk der besprochenen Personen auch gelesen und im Idealfall sogar begriffen haben, auch wenn Thomas Bernhard eine Verteidigung seines Werks nicht nötig hat.

In Köln haben einige Leute Gesetze gebrochen, geschriebene wie ungeschriebene, wer noch halbwegs alle Tassen im Schrank hat, wird dies nicht bestreiten oder schönreden. Der Vorwurfhagel, der allerdings nun nicht mehr nur von einwanderungsskeptischer Seite reflexartig formuliert wird, ist nicht nachvollziehbar. Er lautet in etwa so: Hier habt ihr, ihr Gutmenschen, was ihr nicht sehen und wahrhaben wollt. Diese Menschen sind nicht integrierbar, und Angela Merkel ist daran schuld. Daraus spricht Angst, am meisten Angst haben interessanterweise meist die, die es gar nicht betrifft. Gleichzeitig hat das eine mit dem anderen nicht viel zu tun. Niemand leugnet, dass Unrecht passiert ist. Und niemand wird leugnen, wenn es den Tatsachen entspricht, dass Menschen Unrecht getan haben, die von Deutschland als Flüchtlinge aufgenommen wurden. Die Vorkommnisse werden rechtliche Folgen haben. Bloß, ohne etwas verharmlosen zu wollen: Terrorakt war es keiner, und wenn hier irgendjemand meint, dass es hier in Europa keinen Terror von Schwachsinnigen wie Anhängern eines IS oder anderen Trittbrettfahrern geben wird, weil irgendwo ein Zaun aufgestellt wird, sitzt einem fatalen Irrtum auf. Wir erinnern uns: Sämtliche Überwachungsmethoden haben ein logistisch kaum vorstellbares Vorhaben wie die Zerstörung der Twin Towers in New York mit Passagierflugzeugen nicht verhindern können.  

Und es ist ein fatale Fehlentscheidung, alle flüchtenden Menschen pauschal als Verdächtige zu stigmatisieren, das macht außer schlechter Stimmung gar nichts Brauchbares. Lediglich die Angst, die so künstlich herbeigeführt wie undefinierbar ist. Genauso wenig ist es richtig, dass alle Deutschen und Österreicher Nazis waren. Waren die ermordeten Juden nicht gleichzeitig Deutsche und Österreicher? Und Polen? Franzosen? Italiener? Gab es nicht dort auch Faschisten und Nazis? Sind alle Syrer Terroristen? Sind alle Terroristen Syrer? Sind also syrische Christen auch Terroristen? Äpfel werden mit Birnen seit je aus einem simplen Grund verglichen: Es funktioniert, weil es so schön einfach ist! Hier machen wir den nächsten Vorwurf: Die Behauptung, dass mit dem Aufstellen eines Zauns eine Veränderung der Situation herbeigeführt werden kann, ist schlicht falsch. Ein Bundespräsidentschaftskandidat meinte gerade, dass an den Grenzen abgewiesen wird, wer lügt. Er selbst meinte, dass die Wahrheit eine Tochter der Zeit wäre. Dieser Kandidat hat sich vor ein paar Jahren bereits mit einem Kollegen mit Migrationshintergrund einer so genannten Buberlpartie, der in einem Glanzlicht an Migrationspolitik sich selbst gerne abgeschoben hätte, ganz prächtig verstanden, ein blauer Kandidat ist also gar nicht mehr von Nöten. In argen letzteren steckt dafür der blaue Kandidat für so ziemlich alles, nur nicht für den Präsidenten, wiewohl er „ein sehr guter wäre, aber ich wäre ein noch besserer Bundeskanzler“. Er sagt das gänzlich ironiefrei. Das klingt alles sehr bedenklich, und vielen Leuten mit einer solchen Rhetorik wird durchaus eine narzisstische Störung diagnostiziert.

Sein Vorwurf lautet: Alle machen alles falsch, nur er mache alles richtig. Das ist sehr einfach und entspricht sehr genau seiner Denkstruktur, seiner Kapazität zu Differenzierung und Dialektik, zum Glück ist es Konjunktiv. Ich erinnere mich sehr genau an eine mathematische Lehrstunde, in welcher ein anderer aktueller Präsidentschaftskandidat den zahntechnischen Leiter der rechten Fraktion regelrecht vorführte und vorrechnete, wie egal ihm der viel zitierte kleine Mann in Wahrheit ist. Ein vollkommen berechtigter Vorwurf. Diesem wirft der Mann mit den immer kleiner werdenden blauen Augen nun vor, Demokratie zu verachten, weil er meint, sich nicht sicher zu sein, jemanden von solcher Persönlichkeitsstruktur als Bundeskanzler anzugeloben.

Schweifen wir lieber ab. Wenden wir uns guten Dingen und Menschen zu. Dieses Abschweifen beginnt aber auch gleich mit einem Vorwurf: Warum werden die Guten zu früh von dieser Welt geschickt? Wobei: Beim deutschen Altbundeskanzler geht das Alter echt in Ordnung. Bei David Bowie hätte es ruhig noch ein wenig dauern können, der Abschied hatte aber Würde. Bei Lemmy Kilmister kann man fast sagen, dass er in den siebzig Jahren ohnehin mindestens hundertvierzig reingetrunken, -geraucht und sich sonstwie reingezogen hat, geht auch in Ordnung. Zu früh gehen sie eigentlich eher für mich selber, ich gestehe, ich hätte mir Motörhead gerne angesehen im März. Ich hätte gerne noch viele Gespräche von Helmut Schmidt gelesen. Ich hätte gerne noch viel mehr Musik und sonstiges von David Bowie vertragen. Auch wenn man sich nicht mit ihnen intensiver beschäftigt habe sollte, kann ihnen nicht der Vorwurf gemacht werden, eine schlechte Stimmung verursacht zu haben, im Gegenteil. Sie haben viel kluges gesagt und getan, manches ist vielleicht auch nicht so gelungen, aber so sind die Dinge, und sie hätten wohl nie behauptet, alles gut und besser zu machen. Das liegt in der Größe, solche Leute brauchen das nicht.

Die österreichische Bundesregierung hat unter grober Fehleinschätzung der eigenen Größe seit langer Zeit endlich einmal ein klares Ziel formuliert: Österreich muss unattraktiver werden. Der Vorwurf an sich selbst lautet also: Wir sind zu attraktiv. Da hinkt sie ein wenig hinterher und wurde längst von sich selbst überholt: Dieses Vorhaben ist schon voll im Gange, oder was glauben die, warum immer mehr Leute zum oben erwähnten Kollegen tendieren, der alles, was er anpacken würde, richtig macht? Eher nicht wegen einer Politik, die eine glänzende Idee nach der anderen hat. Und die nun zuletzt artikulierte lässt mich erschaudern. Für Aussenstehende wie etwa Flüchtlinge ist jede Gegend attraktiv, wo nicht erschossen, gefoltert und zerstört wird. Solche Menschen werden weiterhin versuchen, woanders hinzukommen. Unser kleines Land tut gerade so, als stehe und falle eine ganze Fluchtbewegung mit der eigenen Attraktivität.

Lemmy Kilmister hat ein paar sehr legendäre Aussagen getätigt. Eine der lustigsten Geschichten ist wohl die Erzählung von einer Tour, auf welcher sowohl Band als auch Crew die meiste Zeit unter Einfluss von LSD standen. „Wir standen im Park und unterhielten uns mit den Bäumen. Manche Diskussionen haben die Bäume gewonnen.“ Würden in diesem Land politische Diskussionen im Park geführt, wäre der Ausgang manchmal nicht viel anders. Ganz ohne synthetische Zusätze allerdings. Die Verantwortlichen des letzten Klimagipfels legten eine Euphorie an den Tag, als hätten sie eine neue Ausgabe der Erde gefunden: In Wirklichkeit gab es keine einzige bindende Maßnahme zu einer Verbesserung. Die kolportierten 1,5 Grad Celsius Erderwärmung in den nächsten Jahren kommen alleine von der heißen Luft, die in den Pressekonferenzen dieser Veranstaltungen verbreitet werden. Sollten diese Leute mit den Bäumen diskutieren, ist selbst dann ein Unentschieden für sie unerreichbar, wenn man die Bäume unter LSD setzt.

Die Motörhead-Tour war irgendwann wieder vorbei, manche erholten sich und erlangten mit ein paar Flaschen Whiskey wieder die Schwerkraft und die Zurechnungsfähigkeit zurück. Das ist ein Trost. Nirgendwohin zurückkehren zu können von einem Trip, der offenbar nie aufhört, ist eher eine Bedrohung. Für uns. Wem könnte ich das denn nur zum Vorwurf machen? Und noch was: Wenn es keine Plakate gibt im Präsidentschaftswahlkampf: Was soll denn dann übermalt werden?

Bildrechte: (c) Walter Schaidinger

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[Kolumne/Walter Schaidinger/04.02.2016]





    Kolumne/Walter Schaidinger


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